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Ich lerne mich kennen

Foto einer Plastik, Mann mit FernglasAls ich vor nun 20 Jahren zu Al-Anon kam – das war zunächst reiner Zufall: ich kam an einem Haus vorbei, an dem hinter Glas ein Plakat über Al-Anon hing – war es bereits im Bewusstsein, dass in meinem Inneren eine Menge nicht stimmte. Das Gefühl, neben den eigenen Schuhen zu treten, war mir damals ein ständiger Begleiter.
Diese Konstellation brachte mir einige „Vorteile“, wenn man das so sagen kann: Es fiel mir in der Gruppe dann nicht schwer zu begreifen, dass ich für mich komme und dass ich kein Rezept zu erhoffen brauchte, wie ich meine Partnerin von ihrer Sucht kurieren kann. Und dass ich machtlos bin, leuchtete mir sofort ein. Das mit Gott kratzte mich als Agnostiker ein bisschen, zumal gerade der Dritte Schritt an der Reihe war, als ich meinem ersten Meeting beiwohnte. Aber mit der Hilfe der Gruppe überwand ich die Schwierigkeit, setzte die Natur und die Evolution an Stelle des freundlichen alten Herrn, und hatte somit etwas, an das ich glauben konnte, ohne mich dazu künstlich zwingen zu müssen, einen „Gott“, der mir freilich keinen 6er im Lotto, wohl aber Gelassenheit, Mut und Weisheit schenken könnte.
Und so ging es weiter. Von Schritt zu Schritt kam ich zu immer mehr Erkenntnissen, die mein Leben reicher machten, und in meinem Inneren – mit einer gewissen Verzögerung – setzte eine tiefgreifende Änderung ein, bei der ich nach und nach ruhiger, besonnener und selbstbewusster wurde. Ich lernte mich kennen, erkannte, dass ich ein recht liebenswürdiger Mensch bin, dass ich einiges an Qualitäten habe und dass diese nicht allein den
Anderen zugute kommen. Schließlich auch, dass ich keineswegs immer pflegeleicht und immer das Opfer bin. Langsam leuchtete mir ein, dass sich die Welt (wahrscheinlich?) doch nicht gegen mich verschworen hatte und dass ich keinen Grund hatte, ständig ängstlich auf der Hut zu sein.
Viele kleine einfache Weisheiten habe ich so im Laufe der Zeit gesammelt: Ich bin für andere reichlich unwichtig: Die Welt hat Besseres zu tun, als ständig auf meine Fehltritte zu achten. Ich weiß, was für mich gut ist, aber manchmal glaube ich es nicht. Ich bin nicht der einzige Mensch auf der

Welt, der sich nicht so verhalten kann, wie er es gerne möchte. Was für mich leicht ist, kann für einen anderen sehr schwer oder gar unmöglich sein; und das Umgekehrte trifft auch zu. Es kommt zwar mitunter vor, das jemand mich ärgern will, aber sehr viel seltener, als ich das denke. Wenn ich nie Fehler mache, beweise ich dadurch, dass ich mich zu wenig fordere. Mit dem Verstand bereite ich Entscheidungen nur vor; ich treffe sie letztendlich mit dem Gefühl. Was macht mir Freude ? Was tut mir gut ? Was ist für mich wichtig ? Übe ich mich darin, „Nein“ zu sagen, wenn ich „Nein“ meine? Warum ich immer noch zu Al-Anon gehe? Ganz einfach: ich bin noch lange nicht am Ende meiner Entwicklung. Ich erlebe immer noch neue Bewusstseinsbereicherungen, neue Erkenntnisse, neue Visionen von neuen Zielen. Mit 55 Jahren habe ich das Gefühl, dass es immer noch etwas gibt, was in meinem Leben besser wird. Und natürlich macht es mir auch Freude, meine Erfahrungen weiterzugeben. Andererseits: ich habe immer noch gravierende Schwächen in vielen Bereichen. Wann werde ich meine rechte Gehirnhälfte mit der linken in Einklang bringen? Wann werde ich endlich den Mut fassen, aus meiner frustrierenden Hausgemeinschaft auszuziehen? Denn da ist immer noch die Alkoholikerin… (Die hatte ich ganz vergessen: ist das nicht toll?)
Peter, ein Al-Anon

 

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