„Ich hasse Weihnachten“, war mein Standardspruch der letzten vielen Jahren. Meist bekam ich schon an St. Martin schlechte Laune und Panikattacken. Ich wollte nicht, dass Weihnachten war, oder wenn ich es schon nicht abschaffen konnte, dann sollte es bitte möglichst schnell vorbei gehen.
Hätte ich Geld gehabt, wäre ich jedes Jahr um die Weihnachtszeit weggefahren, irgendwohin, wo ich es hätte ignorieren können. Aber erstens hatten wir nie Geld und zweitens 5 Kinder, und so verlebte ich die Weihnachtszeit in ständiger Diskrepanz von „gute Miene zum bösen Spiel“ und der totalen Verweigerung auch nur irgendetwas daran schön zu finden. Mit stoischer Verbitterung und fest verschlossenem Herzen war für mich die Zeit ab dem 1. Advent eine Zeit des Aushaltens, der Ignoranz und endete mit einem Stoßseufzer am 3. Weihnachtstag, wenn alles wieder vorbei war.
Die erste Erinnerung, wenn ich an meine Weihnachten als Kind denke, ist eine Flasche Mariacron. Ich könnte sie zeichnen, wenn ich künstlerisches Talent hätte, was ich nicht habe, aber ich glaube ich könnte filigran aus dem Gedächtnis jeden Schriftzug auf der Flasche nachmalen.
Für gewöhnlich gingen meine Mutter und meine Oma gegen 17 Uhr in die Kirche, während mein Vater zuhause blieb und für den Christbaum zuständig war. Danach war dann Essen angesagt und anschließend Bescherung für mich als einziges Kind meiner Eltern.
Obwohl ich nie dabei war, wusste ich, dass es pro Kugel, die mein Vater aufzuhängen hatte, EINEN Cognac gab und wir hatten viele Kugeln und Weihnachtsschmuck. Wenn wir dann aus der Kirche kamen, war der Baum voll und mein Vater war es auch. Beim Essen wurde noch alles ignoriert, die Bescherung war dann schon schwieriger. Ich lernte mich grundsätzlich besser über alles zu freuen, keinen Unmut zu äußern, egal wie unsinnig die Geschenke auch waren.
Und ich lernte mich ganz schnell damit in mein Zimmer zu verziehen, möglichst nicht mehr irgendwie aufzufallen und im Spielen mit meinen neuen Sachen den immer schlimmer werdenden Familienstreit im Wohnzimmer auszublenden. Vielleicht waren mir deshalb Hörspiele noch die liebsten Weihnachtsgeschenke. Kopfhörer auf und nichts mehr hören müssen als das Hörspiel, was dann in meiner Pubertät von Platten von AC/DC abgelöst wurde.
Als ich meine eigene Familie hatte, mit einem nicht trinkenden Ehemann sollte alles besser werden. Doch mit 5 Kindern wurde jedes Weihnachtsfest irgendwie zum reinen Stressfaktor, und da mein Ehemann beruflich meist auch gar nicht zugegen war, blieb alles an mir hängen und die Besinnlichkeit hielt sich in Grenzen. Ich wollte zwar alles irgendwie besser machen, aber irgendwie gelang mir das nie. Das Streben zur Perfektion brachte mich auch jährlich wieder an die Grenze zum Scheitern. Den Kontakt zu meinem alkoholkranken Vater brach ich mit den Jahren ab.
Eines Abends am 23. Dezember meldete sich überraschend mein Vater, natürlich völlig betrunken und teilte mir mit, dass er doch am nächsten Tag, Heiligabend, zu uns kommen wolle und mit mir und den Enkelkindern Weihnachten zu feiern. Meine Kinder kannten meinen Vater gar nicht und mir blieb fast die Luft weg. Ich log und fühlte mich wieder wie 10. Aber ich wollte alle Menschen in meinem Umfeld davor schützen, was ich erlebt hatte. Ich erzählte ihm, dass wir doch gar nicht zuhause seien. Wir wären eingeladen und das könne ich unmöglich absagen. Wir wohnten inzwischen gute 50 km auseinander.
Mein Gedanke war auch, dass, wenn er sich betrunken ins Auto setzen würde, um zu uns zu fahren, vielleicht unschuldige Menschen auf dem Weg zu ihren Lieben sterben müssten, wenn mein Vater betrunken in den Gegenverkehr rast und alles wäre meine Schuld.
Am Heiligabend plagte mich natürlich mein schlechtes Gewissen, mein Vater war allein, seine Lebensgefährtin war einige Zeit vorher verstorben, und ich hatte es nicht über mich gebracht meinem Vater ein schönes Weihnachtsfest zu ermöglichen im Kreise von Familie und Enkeln.
Mein Vater starb an diesem Heiligabend gegen 18 Uhr allein in seiner völlig vermüllten Wohnung an einer Überdosis Alkohol gepaart mit Tabletten. Ob es Absicht war, ich weiß es nicht. Ich erfuhr es erst am 6. Januar. Und ich blieb zurück mit einem Berg Schuldgefühlen.
Fortan ist für mich Heiligabend mit Alkohol und Tod und Sterben behaftet und meinem schlechten Gewissen meinem Vater nicht die Hand gereicht zu haben, als er sie vielleicht gebraucht hätte.
Inzwischen hing auch meine Mutter an der Flasche. Schlimmer, oder vielleicht auch einfach anders, als mein Vater je war. Trotzdem hielt ich den Kontakt. Sie war inzwischen in 2. Ehe verheiratet, ebenfalls mit einem Trinker. Ich verstand die Welt nicht mehr. Da wir ein großes Haus bewohnten traf sich also Weihnachten alles immer bei uns, wer hat schon Platz für eine 7-köpfige Familie?
Ich rang meiner Mutter das Versprechen ab nüchtern zu bleiben und holte sie am Bahnhof ab. Natürlich war sie schon angetrunken, was sich im Verlauf des Abends noch verschlimmerte. Bei uns gibt es keine Alkohol, also muss sie ihn sich mitgebracht haben, denn sie verschwand im 10-Minuten-Takt mit ihrer Handtasche auf die Toilette. In meinem Haus!
Das Essen verlief schweigend, mein Mann, meine Kinder, meine restliche Verwandtschaft verfiel in Schweigen. Es wurde ignoriert und verleugnet. Bis ich es nicht mehr aushielt, aufstand und nur noch hysterisch rumbrüllte, was ihr eigentlich einfiele, mir so entgegenzutreten und sich so gehen zu lassen. Mein Ausbruch wurde von allen am Tisch sitzenden ebenso geflissentlich mit Schweigen entgegengenommen.
Seit dieser Zeit hasse ich Weihnachten. Im vergangenen Jahr zogen wir um. Der Umzugstermin war Mitte Dezember. Für mich ein willkommener Anlass meiner Familie zu eröffnen, dass Weihnachten in diesem Jahr ersatzlos gestrichen sei. Es wäre kein Geld mehr da für Geschenke, weil der Umzug und die neuen Zimmer der Kinder so teuer waren, dafür hätten sie sicher Verständnis und ich hätte keine Zeit weihnachtlich zu dekorieren, weil hier noch so viel zu tun sei.
Einen Baum wird es auch nicht geben, weil wir ja noch gar nicht wüssten, wo wir den im neuen Zuhause denn überhaupt hinstellen sollten. Meine Familie nahm es klaglos hin und ich war glücklich. Kein Weihnachten, kein Schmuck, nichts was mich irgendwie daran erinnerte. Die Tage vor Heiligabend war ich zum ersten Mal seit Jahren nicht depressiv und gereizt , sondern fröhlich und voller Tatendrang. Der Druck war weg. Zum ersten Mal. Heiligabend und die Feiertage waren für mich Tage wie jeder andere.
Anfang Oktober verstarb auch meine Mutter und durch einen lieben Menschen hatte ich eine Woche zuvor endlich nach all den Jahren den Weg in ein Al-Anon Meeting gefunden. Ich erlebte dort, was wohl vielen vor mir schon so ergangen war. Ich begriff, wie krank ich eigentlich bin, wie zerstört meine Wahrnehmung ist, wie schlimm es um meine Gefühlswelt bestellt ist und wie viele Jahre ich selbst schon mit Verleugnung und Verdrängung lebe, von denen ich geglaubt hatte, ich habe keine Probleme.
Durch die Literatur habe ich in den wenigen Wochen schon viel über mich erfahren dürfen. Insbesondere wie schlecht es um meine Gefühle bestellt ist und dass ich mich jahrelang dagegen verwehrt habe irgendetwas schön zu finden. Niemals das Recht für mich in Anspruch genommen zu haben glücklich zu sein, nichts wirklich genießen zu können und ständig nur kontrolliert zu sein. Mich zu kontrollieren und mich nicht wahrzunehmen und nichts zu fühlen.
Was ich damit vielleicht meinen Kindern angetan habe, darauf komme ich erst jetzt. Heute beim Mittagessen frug mich unser Sohn, ob es denn dieses Jahr wieder einen Weihnachtsbaum geben würde und meine erste Reaktion war wie immer. Magenschmerzen, Kloß im Hals und ein müdes „Ach ja, es ist ja wieder Weihnachten.“
Doch dann erinnerte ich mich an vieles, was ich gelesen hatte. Und ich frug ihn, wie er es denn letztes Jahr so empfunden hatte, als ich beschloss „Weihnachten fällt aus.“ Die Antwort war erschreckend, denn er sagte, dass er es traurig gefunden hätte.
Ich habe nun beschlossen, dass ich Weihnachten nicht länger „hassen“ muss, dass ich ein Recht darauf habe auch Weihnachtsmärkte schön zu finden, mich an den vielen Liedern zu erfreuen, mit Freude den Baum schmücken darf und kann und auch mit Freude kleine Geschenke für meine Lieben aussuchen darf.
Es liegt nun an mir und in mir Weihnachten schön zu finden, so wie die meisten Leute, auch wenn es in unserer hektischen Zeit sicherlich auch mit ein wenig Stress verbunden sein wird. Ich kann meine Kindheit nicht mehr ändern aber ich kann mich von dem unerfüllten Traum, den ich hatte, verabschieden und meine eigenen Träume träumen und sie auch wahr werden lassen, wenn ich das möchte und ich Einfluss darauf habe!
In diesem Sinne wünsche ich allen eine schöne Adventszeit.
Daniela, „erwachsenes Kind“ – Al-Anon
3 Kommentare
Liebe Leser und Leserinnen,
ich freue mich auf Sylvester. Das ist für mich ein leichtes Fest, da fürchte ich keine alten Erinnerungen.
Am „Heiligen Abend“ mussten meine Eltern arbeiten. Meine Mutter stand auf dem Wochenmarkt, mein Vater ging 2 Stunden in die Kneipe und holte sie gegen 13 Uhr vom Wochenmarkt wieder ab.
Mein Vater machte seinen Mittagsschlaf … meine Mutter bereitete das große Fest vor…
Gegen 18 Uhr wurde es hecktisch und laut. Es wurde gebrüllt und in meiner frühen Kindheit auch geschlagen.
Schließlich sollte die ganze Familie pünktlich in der kath. Weihnachtsmesse sein. Eine Reihe in der Kirche besetzt mit Familie B.
Diese Verlogenheit hat sich tief eingeprägt und als ich dem Fest fernbleiben konnte, habe ich es auch getan.
Heute besuche ich zu Weihnachten meine Mutter und nutze diese Zeit zum Erzählen, Stricken, Lesen und Al-Anon-Gruppenbesuchen in der Stadt meiner Kindheit.
Dann fahre ich wieder nach Hause und freue mich auf Sylvester ! !
Ich wünsche euch ein gutes neues Jahr
Ange
Zu diesem Artikel sind wir gebeten worden, einen Kontakt an die Autorin weiterzuleiten, zwecks Teilen von Lebens-Parallelen.
Das Gruppengewissen vom Blog hat sich dagegen entschieden, denn zum Teilen sind unsere Meetings da.
Nicht die Autorin ist das Maßgebliche, es ist der Text.
Und der/das Blog ist eine Möglichkeit, die Vielfalt in Al-Anon darzustellen.
Prinzipien allem Persönlichen voranstellen !
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Ich bin 26 Jahre alt und per Zufall auf diese Seite gekommen. Auch ich hasse Weihnachten. Seit zwei Jahren verweigere ich das Fest. Ich sehen rein gar nichts schönes daran, denn es ist für mich nur ein Grund meiner Mutter sich zu betrinken und uns Kinder am Tisch zu haben damit wir Ihre Geschichten über all die ungerechtfertigkeiten hören müssen. Wenn ich mir Ihren Blick mit den wässerigen Augen und immer blöder werdenden Ausdruck vorstellen wird mir fast übel…Ich hoffe sehr das ich irgendwann selber eine Familie habe und Weihnachten dann schön ist. Jetzt würde ich auch am liebsten den Dezember ganz streichen