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Wahrnehmungen

Foto, Bäume im NebelInzwischen nagen die vermummten Gesichter auch an mir. Als wir uns noch im Präsenzmeeting treffen konnten, war auch mal außerhalb der Familie jemand da, dem ich ins Gesicht schauen konnte. Klar, ich habe einen Partner und nette Nachbarn, die sich mal über einen kleinen Schnack freuen. Aber selbst in unserem Stadtteil, wo wir ohne Vermummung laufen dürfen, sind die Kontakte über Mimik kleiner geworden. Jeder versucht, sich so schnell es geht zu entfernen.

Da kommt schon mal das Gefühl von früher in mir hoch. Bloß keinem zu nahe kommen, bloß keinem Gelegenheit geben, dass er etwas sagt oder noch schlimmer mich etwas fragt. Heute wäre das ja eigentlich keine Sache. Mein Leben läuft in geordneten Bahnen. Es wird nicht mehr herumgetobt und ich muss meine verheulten Augen nicht mehr überschminken. Trotzdem sind die alten Denk- und Gefühlsbahnen immer noch vorhanden.

Ich habe bei meinen ersten Besuchen im Meeting häufig von Dankbarkeit gehört. Damit konnte ich nichts anfangen. Nach so vielen Jahren im Chaos. Wovon sprachen die Menschen dort? Dankbar sein für „verlorene“ Jahre? Arbeiten an mir selbst, obwohl doch der Partner getrunken hat? Langsam habe ich mich damals vorgetastet. Die Freude über eine Blume, deren Duft ich wahrnehmen konnte; einen Vogel, der vielleicht nur für meine Ohren sein Lied sang; die Kinder, die mir zuwinkten. Einfach nur so.

Heute, bei einem wunderbaren Herbstausflug in unserem Heimatgebirge, habe ich tiefe Dankbarkeit gespürt und dafür war nichts Großartiges nötig. Ein Lächeln, ein Hallo, ein freundliches „Guten Tag“. All das konnte ich annehmen. Früher hat es mich wütend gemacht, wenn jemand glücklich oder dankbar war. Heute bin ich dankbar von ganzem Herzen. Vor allen Dingen, dass ich das alles erleben und fühlen kann.

Neben den positiven Gesichtern habe ich allerdings auch die negativen wahrgenommen. Menschen, die keinen Kontakt haben wollten. Die mit sich selbst mehr beschäftigt waren, als sich auf den wunderbaren Herbsttag einzulassen. Ich bin froh und dankbar, dass ich zu Al-Anon gefunden habe und die Seite wechseln durfte.

Eine Angehörige

4 Kommentare

  1. Heike schrieb:

    Ach, welch` hoffnungsfrohe Zeilen, danke! Gerade jetzt wieder in dem erneuten Lockdown. Zum Glück habe auch ich durch Al-Anon zur Dankbarkeit gefunden…und es gibt tatsächlich jeden Tag so vieles, wofür ich dankbar sein kann…heute z.B. der Besuch von vielen Vögeln in meinem Futterhäuschen und das Erledigen einer Korrespondenz, die ich mal wieder aufgeschoben hatte…

    Montag, 14. Dezember 2020 um 19 | Permalink
  2. Gaby schrieb:

    Ich bin auch Dankbar für die Höhere Macht, dass sie mich heute zur richtigen Zeit vor die Tür geschickt hat, da ich zur Zeit bei dem Wetter auch nur vor dem PC oder Handy hocke. Aber ich will mich dafür nicht mehr niedermachen und bestrafen, dann hört es vielleicht von allein auf…

    Mittwoch, 16. Dezember 2020 um 16 | Permalink
  3. Brigitte schrieb:

    Liebe Angehörige,
    auch mir fehlen die Präsenzmeetings und die Umarmungen der Al-Anon Freunde.
    Danke für Deine Zeilen, in denen ich mich wiederfinden durfte. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit für das Finden meiner Höheren Macht, die mir die Kraft gibt, die Krankheit Alkoholismus von einem geliebten Menschen zu trennen. Mit Dankbarkeit bleibe ich gerne bei mir…

    Freitag, 18. Dezember 2020 um 12 | Permalink
  4. Michael schrieb:

    Hallo zusammen,

    auch ich habe einen lieben Angehörigen, der seit langer Zeit dem Alkohol verfallen ist und ich das fast täglich mitbekomme.
    Durch die Diakonie bin ich auf diese Möglichkeit aufmerksam geworden hier Unterstützung zu erhalten.

    Samstag, 27. Februar 2021 um 17 | Permalink
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