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Hilfe durch die Literatur

Als meine älteste Schwester mir erzählte, dass bei ihr Nierenkrebs diagnostiziert worden sei, weinten wir beide am Telefon.
Es gab keine Hoffnung, denn die Erkrankung war in einem progressiven Zustand, in dem eine Operation nicht möglich war. Sie erzählte mir von den Medikamenten, die sie nehmen musste und es war klar, dass wir weniger als ein Jahr zusammen hatten.
Da fing ich an, in unserem wunderbaren Buch „Mit dem Öffnen unserer Herzen verwandeln wir unsere Verluste“ zu arbeiten. Ich las ein oder zwei Passagen und schrieb meine Gedanken und Gefühle auf. Danach war ich bereit, mit meiner Schwester zu telefonieren.
Ich hatte die Kraft zuzuhören und ihr zu sagen, wie ich über diese hoffnungslose Situation denke. Wir konnten die Krankheit realistisch betrachten, und das gab ihr, glaube ich, den Mut, dem Druck ihrer Familie standzuhalten. Diese wollte, dass sie kämpft, obwohl es kein Heilmittel gab.
Um gut für mich zu sorgen, las ich das Buch täglich. Auf der einen Seite konnten wir beide so der Realität besser ins Auge sehen und auf der anderen Seite konnten wir über unser Leben und die Menschen sprechen, die uns wichtig waren.
Eines Tages fragte sie mich, ob es möglich sei, in unsere Heimatstadt zu fahren und Fotos von dem Dorf und dem Haus zu machen, in dem unsere Großeltern gewohnt haben und Bilder von dem Haus, in dem wir aufgewachsen sind. Ich erfüllte ihren Wunsch und klebte diese Fotos in ein kleines Buch mit persönlichen Texten. Einige Wochen später besuchte ich sie, und wir schauten uns die Bilder an, die einen Teil unserer Kindheit zeigten. Nie zuvor hatten wir uns die Zeit genommen, über diese «kleinen» Dinge im Leben nachzudenken. In dem Bewusstsein, dass dies wahrscheinlich unser letztes Treffen ist, hatten wir eine wundervolle und kraftvolle Zeit, die uns einander sehr nahe brachte. Das war aufgrund unserer früher stets ziel- und erfolgsorientierten Einstellung nie möglich gewesen. Motto: Gefühle haben keinen Platz, wenn die Arbeit ruft.

Dank meiner Literatur konnte ich ihr die wichtigsten Dinge mitteilen, die ich in Al-Anon gelernt habe: sich der Realität zu stellen und das Gelassenheitsgebet zu einem Bestandteil meiner täglichen Arbeit zu machen.
In den nächsten Wochen arbeitete ich weiter an diesem Buch. Es gab mir die Grundlage, alle Gefühle zu akzeptieren, die aufkamen, indem ich meine älteste Schwester gehen ließ. Heute habe ich in diesem Buch einen wunderbaren Marker gefunden, den ich damals als wichtig empfunden habe.
Es ist meine Antwort auf die Frage nach den Gefühlen, die ich nicht ausdrücken kann. Seite 137, Frage 3 Traurigkeit: Ich habe das Recht, die Traurigkeit zu spüren, zu trauern und jemanden zu suchen, der mich tröstet.
Ich habe das Recht, dies in meiner Zeit zu tun, ohne nach jemandem Ausschau zu halten, der mehr Hilfe braucht.

Eine gut gerüstete Angehörige

 

3 Kommentare

  1. Miriam schrieb:

    Das ist ein sehr berührender Text. Vielen Dank für das Aufschreiben. Alles Gute

    Montag, 22. März 2021 um 09 | Permalink
  2. Anne schrieb:

    Sehr tröstlich.

    Dienstag, 23. März 2021 um 09 | Permalink
  3. Heike schrieb:

    Danke für diesen mich auch sehr berührenden Text! Und so kraftvoll in all dem auch Schweren. Ja, das darf auch ich durch Al-Anon lernen, alle Gefühle zuzulassen, sie nicht mehr zu leugnen, teilen zu dürfen, erleben, auch das geht vorbei und ich bin nicht allein. Und all`das, ohne nach „jemandem Ausschau zu halten, der mehr Hilfe braucht“!

    Dienstag, 23. März 2021 um 15 | Permalink
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