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Aus Schweigen wird Selbstliebe: Wie ich in Al-Anon zu mir finde

Foto von einem GlückskleeIch ging durchs Leben – mit vielen Problemen, die ich gut vor mir und anderen versteckte und leugnete. Schon immer funktionierte ich gut. Abi bestanden, Studium absolviert, Arbeit gefunden. Aber so problemlos waren die Dinge in Wirklichkeit nicht.
Ich glaubte immer, alles mit mir selbst ausmachen zu müssen, meine Geheimnisse bloß nicht verraten zu dürfen, denn dann hätte ich keine Kontrolle mehr über mein Leben. Ich entwickelte unglaublich viel Härte gegen mich selbst. Damit kam ich durchs Leben. Meine Überlebensstrategie. Aber ich wechselte häufig meine Arbeitsplätze. Oft fand ich kein richtiges Maß zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Überarbeitete mich völlig, kuschte, schleimte. In vielen Fällen verließ ich dann verbittert und im Streit das Unternehmen.
Mein langjähriger Partner war ein Choleriker und stark von Stimmungsschwankungen geprägt. Ich litt still und richtete mich in meiner Opferrolle ein. Als Kind und Jugendlicher war ich sehr übergewichtig. Das bin ich nicht mehr, aber Essen und das Kontrollieren meines Essverhaltens blieben Thema. Auch hier Härte und Selbsthass, damit ich mich gut “im Griff” hatte. Nach außen oft gut gelaunt, angepasst. Mitunter aber auch extrem zynisch und abwertend. So hart wie ich über mich selbst urteilte, urteilte ich auch über andere. Mit engen Freunden führte ich gerne pseudo-intellektuelle Diskussionen über die Tiefen und Traurigkeiten des Lebens, und stempelte Menschen, die positiver ans Leben heran gingen, als naiv und dumm ab.

Vor zwei Jahren kam es für mich zu einer Wende. In meiner Familie rumorte es gewaltig: Mein Bruder trank und das hatte dramatische Folgen. Täglich kam es zu neuen Katastrophen. Ich begann mich, nach einem für mich sehr entscheidenden Ereignis, mehr mit mir zu beschäftigen. Ich trennte mich von meinem Partner. Kündigte meine Stelle, die mir nicht guttat. Vieles veränderte sich.
Vor einem Jahr unterhielt ich mich nach Jahren erstmals wieder mit meinem alkoholkranken Bruder, was ich mir niemals hätte vorstellen können. Er war trocken geworden. Unser Gespräch brachte alles auf den Tisch, was in unserer Familie vertuscht und verschwiegen wurde. Erstmals hatte meine Tante ganz offen mit ihm gesprochen. Nun wurde mir alles klar, die vielen Puzzleteilchen, die ich nicht zusammenbringen konnte, nicht zusammenbringen wollte, sie ergaben plötzlich Sinn.
Die Bilanz war verheerend: Eine alkoholkranke Mutter, an den Spätfolgen ihres Trinkens vor vielen Jahren zu früh verstorben. Ein alkoholkranker Vater, gut funktionierender Spiegeltrinker. Ein alkoholkranker Bruder, der durch sein Trinken mehrere schwere Unfälle sowie Selbstmordversuche hinter sich hatte und der seine Firma mitsamt unseres Familienvermögens vor die Wand gefahren hat. Ein anderer Bruder, der als Kind schwere Verletzungen erlitt, weil meine betrunkene Mutter ihn nicht beaufsichtigt hatte, und der noch heute davon gezeichnet ist. Eine Familie, in der sich alles um das Trinken drehte, aber niemand darüber sprach. Eine durch und durch alkoholkranke Familie. Die Auswirkungen trafen mich mit voller Wucht. Sie trafen mich schon immer mit voller Wucht, aber erstmals erkannte ich das.

Ich ging wenige Wochen später eine neue Beziehung ein. Ich war noch ganz aufgewühlt, von dem was ich von meinem Bruder erfahren hatte. Und nun: Das Trinken meines neuen Partners irritierte mich. Ich fing an ihn zu analysieren und zu kontrollieren. Ich drehte völlig durch und dachte nur: “Was soll dieser ganze Wahnsinn?! Ich bin nur noch von Alkis umgeben! Jetzt auch noch mein Partner!”. In diesem Moment rief ich eine gute Freundin meiner Eltern an. Eine der wenigen, die den Alkoholismus in unserer Familie nicht verschwiegen hatte. Sie sagte mir “Du analysiert Deinen neuen Partner wie Deine alkoholkranke Mutter. Geh zu Al-Anon. Das ist das, was Du brauchst. Such Dir ein Meeting raus und geh hin.” Sie selbst kam vor vielen Jahrzehnten wegen des Trinkens ihres Partners zu Al-Anon. Sie hatte mir und meinen Geschwistern schon einmal Al-Anon empfohlen, direkt nach dem Tod meiner Mutter. Aber: Damals war ich nicht bereit dafür. So wie der Trinkende nicht erkennen will, dass er alkoholabängig ist, so konnte ich nicht erkennen, wie der Alkohol mein Leben beeinflusst hatte. Ich war so dankbar für dieses Gespräch und war zwei Tage später bei meinem ersten Meeting.

Mir ging nun auch auf, warum ich in intimen Beziehungen so wenig Gefühle zulassen konnte. Warum ich mir damals einen Choleriker als Partner gesucht hatte, weil sich damit wiederholte, was ich aus meiner Kindheit kannte. Warum ich dauernd in chaotischen Arbeitsverhältnissen landete, oft mit Alkoholikern als Chef, und warum ich mich magisch von Menschen angezogen fühlte, die große Probleme mit sich herum trugen.

Nun bin ich ein Jahr bei Al-Anon. Und ich habe so viel gelernt. So viel über mich, so viel über mein Verhalten und das Verhalten anderer Menschen. Wie wichtig es ist, dass ich auf meine Bedürfnisse höre, meine Gefühle beachte. Dass ich meine eigenen Gefühle habe und nicht mit den Gefühlen anderer mitschwingen muss. Für mich ist es enorm heilsam im Hier und Jetzt zu sein und nur im Tag zu leben. Mein endloses und verzweifeltes Grübeln, früher mein Lieblingssport, ist verschwunden. Mein Schlaf ist so viel besser. Meine Geheimniskrämerei und mein Kontrolldrang lassen nach. Mein Kopf, mein Körper und mein Herz sind miteinander verbunden, was ich früher nicht kannte. Ich kann nun die Dinge, die nicht in meiner Hand liegen, besser loslassen.
Alles in meinem Leben hat sich verbessert. Ob mein Umgang mit mir selbst, mit Freunden, mit meiner Familie, mit meinem Partner, mit meinen Vorgesetzten und Kollegen. Die vielen Meetings, die Gespräche mit Al-Anon Freunden, die Arbeit in den Schritten und die Programmliteratur helfen mir sehr. Auch abseits des Al-Anon Programms arbeite ich an mir. Das regt Al-Anon auch an (wozu etwa der Besuch von Therapeuten gehören kann). Aber: Ohne Al-Anon wäre ich nicht dort, wo ich jetzt bin. Dafür bin ich sehr dankbar.
Mit Ruhe, Besonnenheit und Respekt für mich und andere kann ich durchs Leben gehen. Ohne Drama. Jeden Tag sehe ich Fortschritte, und mache mir diese immer wieder bewusst. Ich gehe liebevoll mit mir um. Ich vergesse nicht, woher ich komme, was ich erlebt habe und warum mir manches vielleicht schwerer fällt als anderen. Perfekt bin ich nicht, das werde ich nie sein – und so ist es gut. Ich bin ein Mensch, der Liebe geben und empfangen darf.

Ein Al-Anon

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